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Patienteninterview Therapieresistente Depression (Teil 2)

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M. J. hat uns schon im ersten Teil des Interviews erzählt, wie er die Diagnose Depression gestellt bekommen hat – und vor allem, wie es ihm davor und danach ergangen ist. 

Die erste Hürde hat M. J. genommen, doch eine weitere wird auf ihn warten: diejenige, dass noch eine passende Therapie für seine schwere Ausprägung der Depression, die therapieresistente Depression, für ihn gefunden werden muss. Doch lange Zeit wusste er nicht einmal, dass er unter dieser Form leidet. Seinen Weg und sein heutiges Leben schildert er im nachfolgenden Interview.

Frage: Können Sie uns etwas über Ihre Stationen im Rahmen der Therapie und die Hochs und Tiefs erzählen?
M. J.: Im Rahmen meiner Therapie(n) der letzten vier Jahre habe ich allerlei Stationen der Krankheit und der Behandlung durchlaufen. Erst nach vielen Wartezeiten bei Psychologen kam ich dann zu einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, der ein tiefenpsychologisches Verfahren anwandte. Leider zeigte sich hier nicht im Geringsten eine Besserung meiner Symptome, so dass ich zusätzlich psychiatrisch behandelt und auf ein antidepressiv wirksames Medikament eingestellt wurde. Selbst bei der Höchstdosis habe ich leider keine Besserung verspürt, aber selbst Wochen nach der Einschleichphase noch Nebenwirkungen. 

Da ich leider das Gefühl hatte, mit meinem Therapeuten nicht effektiv arbeiten zu können und sich meine Symptomatik dazu noch verschlechterte, entschied ich mich 2019, mich in eine stationäre Behandlung zu begeben. Meine Wunschklinik hatte leider eine sehr lange Warteliste. Deshalb wurde ich während meiner Zeit auf der Warteliste in der KJP   aufgenommen. Dort wurde ich während meines 6-wöchigen Aufenthalts einigermaßen stabilisiert und auf ein anderes Antidepressivum umgestellt. Als dann ein Platz in meiner Wunschklinik frei wurde, kam ich von der KJP direkt in die psychosomatische Klinik. Der 17-wöchige Aufenthalt dort hat mir schon geholfen, allerdings zeigte er nur einen geringen Einfluss auf die Symptome der Depression. Ich habe mir aber während meines Aufenthalts eine neue psychotherapeutische und psychiatrische Praxis suchen können, die auch Erwachsene behandelt. Immer wieder habe ich nämlich den Eindruck gehabt, in den Kinder- und Jugendstationen nicht voll ernst genommen zu werden und meine Schwerpunkte nicht selbst bestimmen zu dürfen. 

„Nach meiner Entlassung war ich einigermaßen stabilisiert – wenn auch von „gut“ weit entfernt.“  

Das lag auch daran, dass das Medikament keinerlei Wirkung, jedoch unangenehme Nebenwirkungen, zeigte. Mein neuer Psychiater hat dann über die folgenden Monate jede Menge Medikamente mit mir durchprobiert, sowohl in Mono- als auch Kombinationstherapie. Nur auf zwei dieser Medikamente habe ich tatsächlich angesprochen. Bei den beiden war aber die Wirkung jedoch nicht ausreichend. Besonders auffällig und belastend waren in meinem Fall zudem noch die unangenehmen Nebenwirkungen bei bestimmten Antidepressiva-Klassen. Psychotherapeutisch hatte ich dann das Glück, mich mehr ernstgenommen zu fühlen. Außerdem war ich nun in einer Verhaltenstherapie, von der ich persönlich mehr profitiert habe.

Als sich 2021 meine Symptomatik über den Zeitraum von einigen Wochen wieder verschlechterte, entschied ich mich zusammen mit meinem Arzt für einen weiteren stationären Aufenthalt; diesmal auf einer Depressionsstation einer KPP für eine gute medikamentöse Einstellung unter stationärer Überwachung. Hier wurde die bisherige Medikation abgesetzt, auf ein Medikament mit einem anderen Wirkungsmechanismus neu eingestellt und eine neue Diagnose gestellt: chronische Depression oder auch therapieresistente Depression genannt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich über gute drei Jahre hinweg durchgehend eine im Schweregrad schwankende Depression. Bei diesem Medikament habe ich erstmalig, und das relativ schnell, einen Effekt gespürt. Wenn auch anfänglich mit Schlafstörungen, habe ich mich, verglichen mit vorher, aktiver gefühlt. Ich hatte weniger Schwierigkeiten, mich zu fokussieren, ich hatte den Eindruck etwas „klarer“ und strukturierter Denken zu können und viele alltägliche Herausforderungen haben mich weniger Überwindung und Zeit gekostet. Das hat sich auch in der Schule bemerkbar gemacht, sodass ich dort auf meine verbesserte Leistung angesprochen wurde. Nach wie vor waren und sind Aufgaben wie Aufstehen, Lernen, Arbeiten, Pläne machen und durchziehen anstrengend für mich. Sie fallen mir nun aber deutlich leichter. Vor allem aber auch zu sehen, dass es überhaupt Chance auf Änderung meiner Situation und Besserung gibt, hat mir sehr geholfen. Zudem erleichtert es mir das Medikament, Pläne und Übungen aus der Psychotherapie überhaupt in Angriff zu nehmen, zu denen ich vorher häufig die Kraft, den Mut, den Glauben daran und auch das Durchhaltevermögen gar nicht hatte. Dabei waren Nebenwirkungen auch überschaubar: Anfänglich hatte ich Kreislaufstörungen beim Aufstehen, eine sogenannte orthostatische Hypotonie, so die medizinische Bezeichnung dafür, wie ich gelernt habe, und Schlafstörungen und bis jetzt noch stark einsetzende Müdigkeitsphasen um die Mittags-/ Nachmittagszeit.

Frage: Sie haben eine chronische Depression, die auch als therapieresistente Depression bekannt ist. Können Sie kurz erläutern, was das ist? Wie äußert sich dies in Ihrem Fall?
M. J.: Eine therapieresistente Depression ist, wie der Name schon sagt, wenn sie nicht weicht – egal, was man macht. Ganz korrekt lautet die Definition, dass es auch nach der Behandlung mit mehreren Arzneimitteln keine Besserung der Depressionssymptome gibt.

Meine Ärzte und ich haben insgesamt acht Antidepressiva, parallel zu ambulanter und stationärer Psychotherapie, allein oder auch manchmal zwei zusammen, ausprobiert. Von denen haben nur zwei überhaupt eine positive Wirkung gezeigt – und das leider nicht in einer angemessenen Stärke. Mir ist nicht klar, warum das alles so lange gedauert hat, und ob es vielleicht hätte schneller gehen können, bis es mir wieder besser ging. Am Ende bin ich jetzt aber froh, dass erst einmal ein Antidepressivum gefunden wurde, das mir helfen konnte.

Frage: Im Zuge Ihrer Medikamentenumstellung müssen sie bei Ihrem aktuellen Präparat eine tyraminarme Ernährung einhalten. Was bedeutet das für Sie? Hat sich Ihr (kulinarischer) Alltag dadurch verändert?
M. J.: Damit komme ich sehr gut klar. Im Allgemeinen betrifft das Lebensmittel, die vergoren bzw. fermentiert sind oder einen gewissen Grad der Alterung haben. Ich habe maximal 2-3 stark tyraminhaltige Lebensmittel streichen müssen. Wie z. B. Leber, sauer eingelegte Lebensmittel, wie Sauerkraut oder Rotwein. Davon abgesehen esse ich inzwischen wieder meistens wie immer. Ich achte zwar darauf, beim Käse eher jungen Käse zu essen oder Obst frühzeitig zu essen, bevor es überreif wird. Aber selbst, wenn ich mal zum Probieren ein paar Krümel Parmesan auf meine Nudeln gemacht habe, mal einen Bissen Leber, reiferes Obst oder gerne auch mal etwas mehr Schokolade gegessen habe, haben sich keine Nebenwirkungen, wie z. B. ein Blutdruckanstieg oder Kopfschmerzen eingestellt. Mit der Zeit habe ich mich also ganz vorsichtig an viele Lebensmittel herangetastet, die ich vorher gerne gegessen habe und habe gemerkt, dass zumindest bei mir nichts passiert ist. Mit etwas extra Vorsicht und Verstand ist bei mir sehr unkompliziert.

Frage: Gibt es etwas, aus dem Sie trotz der Depression Kraft ziehen konnten? Etwas, das Ihnen geholfen hat, den Alltag zu meistern?
M. J.: In den letzten Jahren gab es vor allem einen Wunsch, der mich dazu gebracht hat, nicht aufzugeben und immer weiter zu probieren: Mein Traum, noch mehr von der Welt zu sehen. In der 11. Klasse gab es die Möglichkeit, an einem Schüleraustausch in den US-Bundesstaat Pennsylvania teilzunehmen. Ich habe mich darauf beworben und bin auch tatsächlich genommen worden. Dass ich dann aufgrund meiner psychischen Erkrankung nicht teilnehmen konnte, hat mich jedoch sehr verletzt und mich damit auch stark demotiviert. 
Einige Zeit später musste ich mich dann mit der Situation meiner Zukunft nach dem Schulabschluss beschäftigen, woraufhin ich mich für einen Freiwilligendienst im Ausland entschieden habe. Die Oberstufenjahre insgesamt, die letzten Monate mit Abiturvorbereitung und Lernen, waren sehr anstrengend und ich wollte endlich mal praktischer arbeiten und nicht direkt im Anschluss mit Theorie und Lernen weitermachen. Der ganze Bewerbungs- und Planungsprozess hat mich zwar enorme Mühe, Anstrengung und Zeit gekostet, was sich aber letztendlich ausgezahlt hat. Ich konnte schließlich nach meinem Abitur diesen Sommer zu meinem Dienst in die USA ausreisen. 

Frage: Wie geht es Ihnen heute? Wenn Sie zurückblicken, gibt es etwas Positives, das Sie aus Ihrem Leben mit der Depression mitnehmen? Vielleicht etwas, das Sie stärker gemacht hat? Welche Ziele haben Sie im Leben?
M. J.: Es geht mir heute im Durchschnitt deutlich besser als in den Jahren 2018-2021. Ich muss mich zwar nach wie vor täglich aufs Neue motivieren, morgens das Bett zu verlassen, und ich habe auch nicht immer Lust, die Dinge zu tun, die ich tun muss. Vieles fällt mir aber heute spürbar leichter. Ich treffe mich mit Freunden und freue mich auch wieder auf das Treffen. Ich bin in der Lage, regelmäßig in meinem Freiwilligendienst zur Arbeit zu erscheinen und dort meine Aufgaben sorgfältig zu erledigen. Ich kann mich eine Weile am Stück auf etwas konzentrieren, Gesprächen/ Fernsehsendungen oder Büchern wieder folgen und arbeite immer daran, meine Pläne auch in die Tat umzusetzen. Nicht immer gelingt mir alles und ich weiß, dass ich noch nicht gesund bin. Ich achte aber inzwischen deutlich mehr auf mich und meine Bedürfnisse und stelle mir häufiger die Frage, was ich mir tatsächlich aufbürden muss, und was andere mich nur gerne übernehmen lassen würden, weil ich so selten Widerworte gebe. Ich arbeite daran, realistischer reflektieren zu können und weniger auf die Meinung anderer angewiesen zu sein. Auch mein persönliches „Energie-Management“ muss ich immer wieder überarbeiten und schauen, wie viel Power ist noch habe und was ich aus Überforderungs-/ Überlastungsgründen, nicht aber aus Rückzugsgründen, absagen oder ablehnen muss. Dazu gehört aber auch die Akzeptanz und der richtige Umgang mit Rückschlägen.

Frage: Welche unterstützenden Maßnahmen helfen Ihnen? Gibt es Tipps, welche Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben möchten?
M. J.: Mir persönlich hat es sehr geholfen, mir ein eigenes Belohnungssystem aufzubauen. Je nach Tagesform habe ich beispielsweise Aufgaben in 15-30-min-Pakete unterteilt und mich nach jedem belohnt. Das konnte sein, sich für eine kurze Zeit auszuruhen, eine Süßigkeit, eine vorher bestimmte Zeit am Handy zu verbringen oder eine Serie zu schauen etc. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine Leistungen nicht belohnenswert genug waren. Wenn ich also manchmal unbedingt eine bestimmte Süßigkeit essen wollte, mich ganz dringend ins Bett legen wollte, oder mir etwas kaufen wollte, habe ich mir die Frage gestellt, was ich an dem Tag geschafft habe, wofür ich mich belohnen könnte. So ist es mir manchmal leichter gefallen, auch kleine Erfolge zu würdigen, um mich dann gleich zu belohnen. Wenn ich schon kurz vor der Belohnung stehe, ist es leichter, etwas zu finden, wofür man sich belohnen kann. Je nach Tagesform kann das stark variieren. An einem Tag ist es, statt dem ganzen Geschirrspüler nur das obere Fach ausgeräumt zu haben, an einem anderen Tag das Aufraffen, um pünktlich in der Schule gewesen zu sein, an einem ziemlich schlechten Tag darf es auch mal das Aufstehen an sich sein.
Daher ist mein Tipp, wirklich nicht aufzugeben, egal wie aussichtslos es scheint, und egal, wie viele erfolglose Therapieversuche man schon hinter sich hat. Es ist Änderung möglich! Ich weiß, wie schwer das ist, weil ich nach jahrelangem Stillstand auch nicht mehr mit Besserung gerechnet hatte. Trotzdem kann ich heute sehen, dass es mir besser geht als damals. Auch muss man manchmal Dingen Zeit geben, die im ersten Moment sinnlos erscheinen. Zum Beispiel dem „sich belohnen“. Am Anfang fand ich es vor allem sinnlos, aber ich habe für mich doch einen Zwischenweg aus beiden Teilen (Belohnung für Erfolg und Erfolg für Belohnung suchen) gefunden. Ich fand es hilfreich zu verstehen, dass das Gehirn viele Denkmuster erst loswerden, umstrukturieren und dann neu lernen muss und das Ganze sehr viel Zeit, Wiederholungen und Geduld braucht.